Nicht das Internet ist pervers, sondern die Situation in der es existiert
Kleines Update für obsolete Weltbilder
Bei fast jeder Diskussion über „das Internet“ fällt mir auf, dass die meisten Menschen eine verschwurbelte Vorstellung von den Dingen haben, die meistens daher kommt, dass sie ihrem Prä-Internet-Weltbild kein Update verpasst haben. Statt ihr Weltbild auf den aktuellen Stand zu bringen, sprich es an eine Welt mit Internet anzupassen, versuchen sie das Internet irgendwie in ihr Weltbild zu integrieren. Und das führt dann zu abenteuerlichen, meist hinkenden Bildern und Vergleichen. Das erinnert mich oft an Kinder, die zwar irgendwie wissen, dass es die Zahnfee nicht gibt, die aber noch nicht drauf gekommen sind, dass es die Eltern sind.
Das führt dann zu Sätzen wie. „Ich weiß, das es die Zahnfee nicht gibt. Aber wo kommen die Sachen dann her? Ihr könnt es ja nicht sein. Weil ihr wisst ja nicht, wann mir ein Zahn ausfällt.“ Bezogen auf das Netz wären das dann Sätze wie: „Ich muss meine eMail nicht verschlüsseln. Weil ich hab ja nichts zu verbergen.“ Das sind Kinder, die immer noch glauben, ihnen könnte nichts geschehen. Sie wissen, dass da irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht, können aber ihr Verhalten nicht ändern, weil es zum einen bisher ja immer gut gegangen ist und zum andern eine Verhaltensänderung auch eine Änderung des Weltbilds in Punkto Überwachung nötig machen würde.
Aber das mögen wir Menschen nicht. Wir integrieren lieber Umstände in unser Weltbild, als uns zu ändern. Kinder glauben, Penatencreme wäre Medizin, nur weil ihr Vater das immer auf kleine Schrammen als Placebo draufschmiert. Erwachsene Menschen glauben, wenn eMail Anbieter auf verschlüsselte Verbindung umstellen, wäre alles wieder gut. Höchste Zeit also für ein kleines Weltbild-Update.
Was ich nicht weiß, macht mich echt heiß
Nur weil wir bestimmte Dinge nicht ständig selbst am eigenen Leib erfahren, heißt das nicht, das es diese Dinge nicht gibt. Überwachung findet statt, auch wenn viele Menschen sich nicht davon betroffen fühlen. Das ist aber ein trügerisches Gefühl. Sie sind betroffen, denn auch ihre Kommunikation wird überwacht. Sie haben nur noch nicht gemerkt, dass sie betroffen sind. Wenn sie es irgendwann merken, wird es wahrscheinlich zu spät sein.
Es ist also höchste Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, was wir nicht wissen und warum wir das nicht wissen sollen.
Nichts ist wie es scheint
Wir müssen wissen, wie wir die Fakten zu bewerten und einzuordnen haben, um sie verwenden zu können. Das kritische Denken, zu dem ich auf dem Gymnasium geradezu gezwungen wurde, ist wichtiger denn je. Menschen, die ihr Wissen aus dem Internet beziehen, haben gelernt, die Dinge zu hinterfragen. Bei Wikipedia lohnt ein Blick in die Diskussion, um zu sehen, ob einzelne Teile eines Eintrags umstritten sind. Bei Selbsthilfeforen lohnt es sich, zwischen betroffenen Vielschreibern und hilfesuchenden Wenigschreibern zu unterscheiden. Die Vielschreiber haben ihr Problem bisher noch nicht gelöst, die Wenigschreiber haben ihr Problem gelöst. Nur weil von wenigen Personen viel zu einem Thema geschrieben wurde, heißt das nicht, das dieses Problem häufig auftritt.
Fotos sind in vielen Fällen bearbeitet oder inszeniert. Positive Bewertungen eines Produkts können von extra dafür angeheuerten Agenturen abgegeben worden sein. Dasselbe gilt für extrem negative Bewertungen eines Produkts der Konkurrenz. Sachverhalte werden von unterschiedlichen Interessengruppen konträr dargestellt. Was Politiker sagen ist meist von ihrer politischen Agenda geprägt.
Es nützt also alles nix: Wir müssen selber ran und selber denken. Wenn wir das anderen überlassen, stehen wir meist ganz schön dumm da. Interessanter Weise haben das viele Internetnutzer schon längst gelernt. So viel also dann mal zur „digitalen Demenz“.
Das Internet ist unsere Gesellschaft – nicht ihr Spiegel
Die Phänomene denen wir im Internet begegnen sind uns seit langem aus unserer Gesellschaft bekannt. Wir haben es bisher nur geschafft, sie erfolgreich auszublenden. Müßig zu erwähnen, dass es all die Internet-Aufreger schon lange vor dem Internet gab, sei es Kinderpornographie, Raubkopierer, Extremisten, Wirtschaftskriminalität, Stammtischreden, etc. Diese Dinge haben durch das Internet keine neue Qualität bekommen. Diese Dinge waren immer schon widerwärtig. Wir konnten sie bisher nur erfolgreich aus unserem Leben ausblenden, nach dem Motto „was nicht sein darf, auch nicht sein kann.“
Die Menschen, denen wir im Internet begegnen, das sind reale Menschen, die gibt es in echt, denen können wir auch begegnen, wenn wir einfach mal in einem anderen Stadtteil in eine andere Kneipe gehen; am besten eine, die uns abschreckt. Das machen wir natürlich nicht, wir bleiben schön in unserer Kneipe und wenn da jemand reaktionäre Reden am Tresen schwingt, dann machen wir eine halblaute Bemerkung zu unseren Freunden, statt denjenigen zur Rede zu stellen.
Im Netz aber haben wir die Möglichkeit, diesen Leuten etwas entgegenzuhalten, ohne Angst vor einer Schlägerei zu haben. Wobei hier mal in aller Deutlichkeit gesagt werden muss, dass bei einigen Extremisten schon Vorsicht angebracht ist, was den eigenen echten Namen angeht. Da sollte man lieber ein Pseudonym verwenden und dafür sorgen, dass es nicht mit dem eigenen Namen in Verbindung gebracht werden kann, denn es gibt da Extremisten, die so was schon mal sehr persönlich nehmen können. Das aber mal nur am Rande zur Forderung „keine Anonymität im Internet“.
Das Internet zwingt uns förmlich dazu, uns endlich mit den Dingen in unserer Gesellschaft auseinander zu setzten, die wir bisher erfolgreich ausblenden konnten. Das ist aber nicht das Problem des Internets, sonder das Problem unserer Gesellschaft.
Wir können natürlich weiterhin versuchen, das erfolgreich von uns wegzuschieben. Wir können behaupten „Das Internet ist Neuland“ oder „Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“ und uns so vormachen, in „diesem Internet“ sei alles anders als in unserer Gesellschaft. Das Gegenteil ist aber der Fall: Das Internet ist unsere Gesellschaft, weil wir dort allen Menschen aus allen Teilen unser Gesellschaft begegnen (können). Und gegen ein paar Auswüchse unserer Gesellschaft sollten wir endlich mal was unternehmen.
Wer nichts weiß, hält den Mund
Selbst auf die Gefahr hin, mir damit ins eigene Knie zu schießen: Wer nichts zu sagen hat, sollte nichts sagen. Ich gebe zu: das gelingt mir eigentlich nie. Aber wenn jemand unbedingt was sagen muss, dann vielleicht doch wenigstens mal überprüfen, ob das eigene Weltbild (neudeutsch sagt man ja jetzt Mindset) nicht vielleicht ein Update braucht.
Könnte ja sein, dass „dieses Internet“ ganz anders ist, als uns die klassischen Medien weismachen wollen. Könnte auch sein, dass es selbständiges Lernen fördert. Dass es zu kritischem Denken führt, Diskurse fördert, Informationen aus erster Hand bietet, der Meinungsbildung dient. Oder dass es aus Konsumenten Produzenten macht, kreative Energien freisetzt, aktiviert einfach mal selber was zu machen, sei es Blog, Podcast, Fotos, Musik, oder Filme. Könnte alles sein, müsste man nur mal recherchieren, wenn man es nicht weiß. Und wenn man nicht gerade einen Bestseller unter Zeitdruck schreiben muss; oder ein medienwirksames Statement abgeben will.
Merkspruch
Puh, ganz schön lang geworden, dieser Artikel. Jetzt fehlt nur ncoh ein einfacher Merkspruch. Einer, in dem alles enthalten ist. So nach dem Motto: „Erst mal überlegen was ich nicht weiß und wieso eigentlich. Dann die vorhandenen Fakten hinterfragen. Abchecken, ob es nicht Dinge in der Gesellschaft gibt, mit denen ich mich mal doch auseinander setzen sollte. Und bevor ich irgend was Dummes mache, einfach mal jemanden fragen, der sich auskennt.“ Da habe ich ein wenig überlegen müssen. Aber hier ist er nun, der Merkspruch für alle Menschen, die mal dringend ihr Weltbild ans Internet-Zeitalter anpassen müssten. Und der geht so:
Wer keine Ahnung hat, wie man die drei Muscheln benutzt, sollte erst mal nach Klopapier fragen, bevor er sich auskackt.